Der geburtshilfliche Schadensfall

1.) Der sog. „geburtshilfliche Schadensfall“ ist für alle Betroffenen ein schwerwiegender Einschnitt in die gesamte Lebensführung und Lebensplanung. Er bietet im Vergleich zu anderen Arzthaftungsfällen eine Reihe von Besonderheiten. Geburtsverletzungen treffen das Individuum noch bevor es die Chance zu einer gewissen Lebensentfaltung hatte. Was ist nun eine solche Geburtsverletzung, wann ist sie vermeidbar, wann führt sie zum Schadenersatz und in welcher Höhe können Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden?

Geburtsverletzungen können durch Sauerstoffmangel, der zu Hirngewebsuntergang führt, oder durch traumatisierende Eingriffe (z.B. innere Wendung, vaginaloperative Entbindungen in Form von Schädelfrakturen, Plexusparesen usw.) entstehen. Mischformen sind häufig. Man spricht deshalb von einem sog. hypoxisch/ischämischen Hirnschaden, der häufig auch mit Traumatisierungen (z.B. Plexusparesen) gekoppelt ist. Dominierend und am schwerwiegendsten sind die Hirnschäden, die in ihrer Ausprägung von Art und Dauer der Mindestversorgung im Mutterleib bzw. bei mangelhafter Nachsorge durch zu späte Reaktion auf eine Dekompensation des Kindes entstehen.

Es gibt leider weder Erkenntnisse darüber, wie lange ein Sauerstoffmangel anhalten muss, um mit Sicherheit einen Hirnschaden zu verursachen, noch wie ausgeprägt dieser Sauerstoffmangel sein muss. Sicher ist aber, dass gerade der Sauerstoffmangel unter der Geburt so gering wie möglich gehalten werden muss, um der Möglichkeit einer Hirnschädigung zu entgehen. Die heutige Geburtshilfe hat die Mortalität (Sterblichkeit) der Neugeborenen bis auf ein kaum noch senkbares Maß reduziert. Maßstab der Qualität der Geburtshilfe ist deshalb die Vermeidung bzw. Reduktion von Azidosen und damit häufig gekoppelter Hirnschäden. Man geht heute davon aus, dass eine gleichbleibende Rate von geburtsgeschädigten Kindern bei 2 % liegt und ca. 20 bis 25 % dieser Kinder vermeidbar geschädigt werden.

Natürlich ist nicht jede Geburtsschädigung vermeidbar bzw. dem Arzt vorzuwerfen, deshalb bedarf es einer sorgsamen Prüfung der konkreten Umstände des Geburtsablaufes und der Nachsorge. Man geht heute davon aus, dass eine Geburtsschädigung vorliegt, wenn

  • Anpassungsstörungen unmittelbar nach der Geburt mit schlechten Apgarwerten bedingt durch mangelhafte Atemfähigkeit und Blutdruckabfall,
  • ein neurologisches Durchgangssyndrom mit schweren Störungen des Muskeltonus, allgemeine Erregbarkeit, mit Neugeborenenkrämpfen, mit anhaltender Unfähigkeit zu atmen,
  • ein neuromotorisches und psychoneurologisches Restschadensyndrom mit Tetraparesen und allgemeiner Entwicklungsstörung,
  • Nicht- oder Falscherhebung von vorgeburtlich zwingend vorgeschriebenen Routinetest,
  • Nicht- oder Falschauswertung vorgeburtlichen CTGs, Blutparametern, Nackenmessungen und andere sowie
  • manuell-technische Fehler in der konkreten Geburtsphase

vorliegen.

Ist demnach das Kind nach der Geburt auffällig im vorgenannten Sinne, muss angenommen werden, dass eine solche Schädigung im zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt eingetreten ist.

2.) Wenn somit aufgrund des Geburtsverlaufes und der Zustandbeschreibung des Kindes nach der Geburt ein zeitlicher Zusammenhang zur Geburt hergestellt ist, dann stellt sich die Frage der Vermeidbarkeit.

Vermeidbar ist ein Geburtsschaden immer dann, wenn auf reaktionspflichtige Befunde seitens des Arztes oder Hebamme nicht oder zu spät therapeutisch reagiert wird. Heutzutage werden Geburten durch das Cardiotokogramm und die Mikroblutanalyse überwacht. Häufig ist es so, dass auf ein pathologisches, also einen Notzustand des Kindes anzeigenden CTGs nicht reagiert wird, weil zur Zeit des Beginns der Pathologie niemand da war, der es auswertete oder aber eine  Fehlinterpretation reaktionspflichtiger CTG-Anomalien vorliegt. Die Ursachen einer kindlichen Notsituation in utero sind vielfältig. Ein mangelentwickeltes Kind kann unter Wehentätigkeit schnell rekompensieren und in eine Sauerstoffnot geraten. Die Plazenta kann sich teilweise lösen und auch insofern eine Mangelsituation hervorrufen.

Häufig gibt es Nabelschnurumschlingungen, die unter Wehentätigkeit zu einer Sauerstoffverknappung führen. Protrahierte Geburtsverläufe aufgrund von übergroßen Kindern führen ebenfalls zu Sauerstoffmangel. Nicht immer sind die Ursachen einer kindlichen Verschlechterung später feststellbar. Darauf kommt es auch zunächst gar nicht an, denn wenn eine Notsituation eintritt und dies bei regelrechter Überwachung auch erkennbar ist, dann muss gehandelt werden. Häufig besteht die einzige Behandlungsmöglichkeit in der Schwangerschaftsbeendigung. Ob dies nun abdominal durch Kaiserschnitt oder vaginaloperativ durch Forceps oder Vakuumextraktion erfolgt, beurteilt sich nach der konkreten geburtshilflichen Situation. Wenn aber nicht oder verspätet reagiert wird und das Kind in einem prolongierten Sauerstoffmangel sich befindet, dann ist ein später sich ausbildender Hirnschaden aufgrund von Sauerstoffmangel vermeidbar und deshalb als Behandlungsfehler der Behandlungsseite anzulasten.

Der Patient muss die Kausalität dieses Behandlungsfehlers in Bezug auf den eingetretenen Schaden beweisen. Hier wird es in der Regel sehr schwierig für den Patienten, da niemand genau zu sagen vermag, ob eine um einen bestimmten Zeitfaktor vorverlagerte Sectio tatsächlich den Schaden vermeiden hätte. Diese Schwierigkeiten werden abgemildert durch verschiedenste Fallgruppen, die zur Beweiserleichterung für den Patienten bis zur Beweislastumkehr führen. Liegt z.B. ein grober Behandlungsfehler vor, der dann anzunehmen ist, wenn auf eindeutige Befunde nicht rechtzeitig eine medizinisch zwingend notwendige Reaktion erfolgt, spricht man von einem groben Behandlungsfehler.

Grobe Behandlungsfehler sind Fehler, die einem durchschnittlich ausgebildeten Facharzt in der konkreten Situation schlechterdings nicht unterlaufen dürfen. Wird ein Befund gar nicht erst erhoben (z.B. eine notwendige CTG-Überwachung nicht durchgeführt), spricht man von Befunderhebungsmängel, die ebenfalls grob sein können und dann dem Patienten nur noch den Beweis einer generellen Eignung der Schadensverursachung auferlegen. Auch ein einfacher Befunderhebungsmangel erleichtert das Beweismaß bezüglich der Kausalität, wenn der Patient darstellen kann, dass, wäre der Befund erhoben worden, sich ein reaktionspflichtiger Tatbestand gezeigt hätte, der bei rechtzeitiger Beherrschung desselben eine Schadensvermeidung immerhin wahrscheinlich erscheinen lässt. Dies nur einige Beispiele, um deutlich zu machen, dass keineswegs die landläufig herrschende Meinung, dass man per se gegen Ärzte keine Schadenersatzforderungen mit Erfolg geltend machen kann, falsch ist. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich.

Ich beschränke mich hier auf einige Beispiele, mache aber deutlich, dass die Beurteilung gerade geburtshilflicher Behandlungsfehler und die Durchsetzung darauf fußender Schadenersatzforderungen sehr komplex ist und ein hohes Maß an medizinischen und juristischen Spezialwissen verlangt.

3.) Wenn ein vermeidbarer Behandlungsfehler festgestellt wurde, der auch kausal für den Schaden ist, dann werden Schadenersatzansprüche der Höhe nach fällig in Form eines sehr hohen Schmerzengeldes sowie Ersatz sämtlicher materiellen Schadens. Der materielle Schaden besteht im Wesentlichen aus dem Ersatz des personellen Betreuungsaufwandes, der in der Regel von den      Eltern geleistet wird. Hier wird die täglich anfallende Stundenzahl an Betreuungsnotwendigkeit marktadäquat vergütet. In der Regel fallen ca. acht bis zehn Stunden behinderungsbedingt pro Tag an. Hinzu treten noch die Einzelpositionen wie behindertengerechter Umbau oder Neukauf eines      entsprechenden Kraftfahrzeuges, die Notwendigkeit behinderungsbedingter Umbauten eines Haues oder eines Neubaus.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die Eltern nicht nur das Recht der elterlichen Sorge haben, sondern auch die Pflicht zur elterlichen Sorge. Die Pflicht zur elterlichen Sorge umfasst nach meiner Auffassung auch die Pflicht, berechtigte Schadenersatzansprüche von Kindern zu prüfen, die wahrscheinlich im Rahmen des Geburtsvorganges  geschädigt wurden. Wer sonst, als die Eltern, soll die Interessen des Kindes wahrnehmen. Darüber hinaus besteht natürlich ein eigenes Interesse der Eltern daran, zumindest eine finanzielle Abpolstertung zu erreichen, damit die äußeren Umstände der weiteren Lebensführung die schwere Aufgabe der Betreuung eines behinderten Kindes erleichtern.

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