OGH vom 27.10.2016, 2 Ob 160/16t
Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad und stürzte wegen eines auf der Fahrbahn liegenden Fahrzeugteils. Dabei handelte es sich um den linken hinteren Kotflügel des Zwillingsrads eines Sattelzugfahrzeugs, das diesen Teil zuvor auf der Fahrbahn verloren hatte. Beim Unfall wurde der Kläger verletzt und sein Motorrad beschädigt. Der Kläger näherte sich der späteren Unfallstelle mit seinem Motorrad mit einer Geschwindigkeit von ca 90 km/h und hielt dabei einen Tiefenabstand zu dem vor ihm fahrenden PKW von ca 35 bis 40 m ein. Im Bereich der leichten Rechtskurve bemerkte er, dass der vor ihm fahrende PKW-Lenker sein Fahrzeug um einen halben bis einen Meter nach links auslenkte. Erst als dieser PKW die Auslenkstelle passiert hatte, sah er selbst den am Boden liegenden Fahrzeugteil, worauf er eine blockierende Bremsung mit dem Hinterrad einleitete, das nach links „verschwenkte“ und dadurch das Motorrad in eine Schräglage brachte, sodass es im Bereich von 30 m westlich BL auf die Fahrbahn stürzte. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Motorrad noch eine Geschwindigkeit von 80 bis 85 km/h und kam bei einer Verzögerung zwischen 3,5 und 4 m/s² zu Sturz.
Hätte der Kläger mit seinem Motorrad eine dosierte Bremsung ausgeführt, wäre seine Fahrlinie stabil geblieben. Dem Kläger wäre ein Auslenken nach links möglich gewesen, ohne dabei den in der Mitte des südlichen Fahrstreifens auf der Fahrbahn liegenden Fahrzeugteil zu überfahren. Auch ohne Bremsmanöver wäre es dem Kläger möglich gewesen, mit einem geringfügigen Auslenken den auf der Fahrbahn liegenden Fahrzeugteil zu umfahren. Der Kläger begehrt vom Beklagten den Ersatz seines gesamten Schadens mit der zusammengefassten Begründung, ihm sei kein Fahrfehler unterlaufen, weshalb ihn am Unfall kein Mitverschulden treffe. Er stellt auch ein Feststellungsbegehren, wonach der beklagte Verband für alle künftigen Schäden aus dem Unfall zu haften habe.
Das Erstgericht sprach mit Teilzwischenurteil aus, das Zahlungsbegehren bestehe dem Grunde nach zu zwei Dritteln zu Recht, ein Drittel des Zahlungsbegehrens wies es ab. Es traf die wiedergegebenen Feststellungen und folgerte rechtlich, dem Kläger sei insofern ein Vorwurf zu machen, als er auf den auf der Fahrbahn liegenden Fahrzeugteil überzogen reagiert habe, indem er eine blockierende Bremsung mit dem Hinterrad eingeleitet habe und so gestürzt sei. Der Kläger hätte durch leichtes Auslenken auch ohne Bremsung bzw bei dosierter Bremsung den Fahrzeugteil umfahren können, sodass ihm am Sturzgeschehen ein Mitverschulden von einem Drittel anzulasten sei. Der Lenker eines Fahrzeugs müsse aber auch mit schwer wahrnehmbaren Hindernissen auf der Fahrbahn rechnen, so etwa mit einer schwer wahrnehmbaren Ölspur. Bei Teilnahme am Straßenverkehr stünden Aufmerksamkeit, Geschwindigkeit und Sichtverhältnisse in einem derart untrennbaren Zusammenhang, dass nur das richtige Verhältnis dieser drei Komponenten zueinander § 20 Abs 1 StVO gerecht werde.
Rechtliche Beurteilung des OGH:
Nach § 18 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeugs stets einen solchen Abstand vom nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug einzuhalten, dass ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich ist, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst wird. Nach § 20 Abs 1 Satz 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeugs die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen, sowie den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Zu Recht hat das Berufungsgericht einen Verstoß des Klägers gegen § 18 Abs 1 StVO verneint: Beim Hintereinanderfahren gemäß § 18 StVO genügt in der Regel ein dem Reaktionsweg entsprechender Sicherheitsabstand, wenn nicht besondere Umstände einen größeren Abstand geboten erscheinen lassen (Pürstl, StVO14, § 18 E 15). Bei der vom Kläger vor seinem Abbremsen eingehaltenen Geschwindigkeit von 90 km/h beträgt der Reaktionsweg etwa 25–27 m (vgl Pürstl, StVO14, § 18 E 14; derselbe aaO § 20 Anm 35). Festgestellt wurde ein Tiefenabstand von 35–40 m, der somit ausreichend war. Besondere Umstände, die einen größeren Abstand geboten erscheinen ließen, liegen bei der vorzunehmenden Ex-ante-Betrachtung nicht vor; denn der auf der Fahrbahn liegende Fahrzeugteil war nach dem Vorbringen des Klägers und dem impliziten Zugeständnis des Beklagten für den Kläger erst erkennbar, als das vor ihm fahrende Fahrzeug an diesem vorbeigefahren war oder ihn aufgewirbelt hatte.
Der Kläger hat aber auch gegen § 20 Abs 1 Satz 1 StVO nicht verstoßen: Der Lenker eines Kraftfahrzeuges muss zwar bei der Wahl seiner Fahrgeschwindigkeit auch solche Hindernisse in Betracht ziehen, mit denen er bei Beachtung aller gegebenen Umstände triftige Veranlassung zu rechnen hat. Er genügt aber seiner Pflicht, wenn er die Geschwindigkeit den Umständen anpasst, die ihm bei der Fahrt erkennbar werden oder mit denen er nach der Erfahrung des Lebens zu rechnen hat. Auf völlig unberechenbare Hindernisse und insbesondere auch auf Hindernisse, die auf Grund von nicht rechtzeitig erkennbaren Verkehrswidrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer in die Fahrbahn gelangen, braucht er aber seine Geschwindigkeit nicht einzurichten (RIS-Justiz RS0074836). Im vorliegenden Fall war der vor dem Vorbeifahren des Pkw für den Kläger nicht wahrnehmbare Fahrzeugteil ein solches Hindernis, auf das er seine Fahrgeschwindigkeit konkret nicht einrichten musste.
Seine Reaktion auf das Ansichtig werden des Fahrzeugteils war zwar rückblickend objektiv falsch; bei richtiger Reaktion („dosierte Bremsung“) wäre der Unfall unterblieben. Wird aber ein Verkehrsteilnehmer bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen und trifft er unter dem Eindruck dieser Gefahr eine – rückschauend betrachtet – unrichtige Maßnahme, dann kann ihm dies nach ständiger Rechtsprechung nicht als Mitverschulden angerechnet werden (RIS-Justiz RS0023292). In 2 Ob 368/64 ZVR 1965/222 und 284 und 7 Ob 82/00k ZVR 2001/17 war für den Motorradlenker die unfallkausale Ölspur als solche (7 Ob 82/00k) oder wenigstens als Verschmutzung der Fahrbahn (2 Ob 368/64)
– im Unterschied zum vorliegenden Fall – in einem Zeitpunkt erkennbar, in dem eine Abwehrreaktion („leicht“ [2 Ob 368/64]) möglich gewesen wäre.2 Ob 30/88 (2 Ob 31/88) ZVR 1989/82 ist schon deshalb mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar, weil dort dem Kläger eine Reaktionsverspätung von 2 sec und eine Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 20 % zur Last fiel.
In 2 Ob 155/67 ZVR 1968/123 und 8 Ob 32/82 hätte der Lenker das Hindernis (2 Ob 155/67 ZVR 1968/123: Person; 8 Ob 32/82: Stier) auf der Fahrbahn – im Unterschied zum vorliegenden Fall – bei gehöriger Aufmerksamkeit so viel früher erkennen können, dass eine Abwehrreaktion möglich gewesen wäre (8 Ob 32/82: Reaktionsverspätung von 1,89 sec).In 2 Ob 213/02s lag entweder eine weit überhöhte Geschwindigkeit und/oder eine verspätete Reaktion vor.ZVR 1968/106 ist als strafgerichtliche Entscheidung, die sich mit (Mit-)Verschulden dessen, der als Motorradfahrer auf der Ölspur stürzte, nicht beschäftigte, nicht einschlägig.
Hingegen sind gerade jene Entscheidungen, in denen ein Verschulden dessen, der mit einem „Hindernis“ zusammenstieß, verneint wurde, und die der Revisionsgegner als nicht einschlägig anführt, durchaus mit dem vorliegenden Fall vergleichbar (2 Ob 276/76: nicht wahrnehmbare, weil verdeckte Fußgängerin; 8 Ob 77/83 ZVR 1984/204: nicht rechtzeitige Erkennbarkeit, dass der Erstbeklagte den Vorrang des Klägers nicht beachten werde – 0,5 sec Reaktionsverspätung des Klägers begründet gegenüber grobem Vorrangverstoß des Erstbeklagten kein Mitverschulden; ähnlich 2 Ob 101/15i: nicht rechtzeitige Erkennbarkeit der Vorrangverletzung des Unfallgegners).Den Kläger trifft somit aufgrund der vorstehenden Erwägungen kein seine Aussprüche gemäß § 1304 ABGB kürzendes Mitverschulden, weshalb die Haftung des Beklagten dem Grunde nach zur Gänze auszusprechen war.